Ein Versuch, sie zu verstehen

Jugendliche können sich nicht vorstellen, auf Internet zu verzichten. ©colourbox.com
[von ursula kraft]
Jugendforschung. Wie ist „diese Jugend von heute“?
Wie schon so oft überfliege ich auf der Startseite des Innenministeriums die angeführten aktuellen Initiativen – und bleibe plötzlich beim Mental Health Jugendvolksbegehren hängen. Mentale Gesundheit? Worum geht’s hier?
Als Sozialpädagogin werde ich natürlich gleich neugierig und beginne zu lesen: „Mentale Gesundheit ist die Grundvoraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben, welches nicht durch Ängste oder Selbstzweifel geleitet wird. Die Situation der psychischen Gesundheit unter Kindern und Jugendlichen hat sich in den vergangenen Jahren massiv zugespitzt und durch Covid-19 einen alarmierenden Höhepunkt erreicht. Wir fordern den Bundesgesetzgeber dazu auf, Maßnahmen im Bereich Mental Health bei der Jugend zu tätigen. Weil es darum geht, (Jugend-)Leben zu retten!“
Ist dieses Begehren übertrieben oder gerechtfertigt? Wie ist es um unsere Jugend bestellt, vor welchen Herausforderungen stehen sie in unserer unsicheren Welt? Wer sind überhaupt „die Jugendlichen“, die Millennials, Generation X, Y, Z, Baby Boomer? Und vor allem: Wissen Politik und Verantwortliche darüber Bescheid? Gibt es darüber Studien und Berichte? Wie wird reagiert, was wird getan? Antworten finde ich auf den Seiten des Bundeskanzleramts: Jugendforschung. Ausgangsbasis für eine aktive und erfolgreiche Jugendpolitik, für wissensbasiertes Arbeiten, zur Entscheidungsfindung und Erstellung von Lösungsansätzen, und um die Lebenssituation junger Menschen mitzugestalten.
Grenzenlose Forschung
Jugendforschung bietet Daten, Fakten und Zusammenhänge, die für eine erfolgreiche Politikgestaltung und außerschulische Jugendarbeit mit einer Vielfalt an Strukturen, Maßnahmen und Angeboten notwendig ist. Na also.
Für diese interdisziplinäre und grenzüberschreitende Forschungsarbeit werden europaweit Institute und Universitäten beauftragt, alljährlich Vergleichsstudien und Statistiken zu erstellen, so auch das Institut jugendkultur.at, dessen Vorsitzender Bernhard Heinzlmaier seit über drei Jahrzehnten in der Jugendforschung tätig ist. Im Onlinetalk bei pop-talk.de spricht er über die viel zitierte Shell Studie, welche alle vier Jahre neu erstellt wird und Begriffe erzeugt wie „Generation Y“. Dieser Begriff klassifiziert die Lebenssituation einer gesellschaftlichen Gruppe, die eher zu den oberen Sozialschichten gehört. Er reflektiert die Lebenssituation von höher gebildeten jungen Menschen, die studieren. Das Problem dabei: Die Erkenntnisse, die daraus gezogen wurden, werden auf die gesamte Jugendpopulation projiziert.
Die Shell Jugendstudie ist seit über 60 Jahren Gradmesser und soll Entscheidern EU-weit eine Grundlage für gesellschaftliches und politisches Handeln bereitstellen, womit gesellschaftliche Verantwortung übernommen wird. Heinzlmaier erwähnt dazu: „Die Studie weist schon darauf hin, dass Migranten anders ticken als Jugendliche mit Migrationshintergrund, anders ticken wie die Autochthonen, männliche Jugendliche anders ticken als Frauen. Dass die bildungsfernen, unteren Sozialschichten und die Mitte nur wenig Interesse an Themen wie Umwelt und Klimaschutz zeigen und auch politisch nicht besonders engagiert sind. Denn die jeweiligen Generationen sind in sich geschichtet und heterogen, nur Teile melden sich zu Wort, meistens meldet sich ja nur die Elite zu Wort, das hat sich nie geändert.“ Befragungen werden zwar quer durch die Bevölkerung durchgeführt, aber das, was in die öffentliche Diskussion gelangt, ist in der Regel sehr verallgemeinernd.
Tendenziell nutzenorientiert
Der Experte für Jugendforschung resümiert, dass die jungen Leute heute „bereit sind, sich anzupassen, wenn sie dafür entsprechende Gratifikationen bekommen. Sie sind kalkuliert und überlegt, nutzenorientiert.“ Sie glauben nicht an die Politiker des Landes, fühlen sich nicht mehr von den politischen Parteien repräsentiert, dafür glauben sie aber an den Begriff der Demokratie, eine leere Hülle, in die jeder hineinprojizieren kann, was er sich vorstellt. Sie sind nicht ideologisch, haben nichts im Sinn mit großen Weltentwürfen, großen Erzählungen von einer besseren Welt, denken eher in egotaktischen als in gesellschaftlichen Kategorien. Dies zeigt sich auch in der Berufswelt, dass Nachwuchskräfte ganz anders denken als ihre Führungskräfte. Sie haben ein hohes Sicherheitsbedürfnis, sind auf der Suche nach Stabilität, Halt und Kontinuität, wollen eine planbare Biografie haben. Da gehören Haus, Auto, traditionelle Familie und ein sicherer Job dazu. Ein Grundbedürfnis der Menschen, stabilen Boden unter den Füßen zu haben, darum ringt und kämpft man. Das sind auch heute noch die großen Ziele dieser Jugendgeneration, die wir vor uns haben.
Aber nicht nur das Alter macht den Unterschied – auch die Generationserlebnisse beeinflussen.
Babyboomer, Millennials, Generation X, Y, Z
Die geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1946 und 1964 sind die Babyboomer. Sie haben die Nachkriegszeit und das Wirtschaftswunder erlebt. Über diese Gruppe gibt es kaum Studien zu Lebensgefühl, Werten und Idealen. Sie werden als erfolgreich und liberal bezeichnet. Durch sie entstand der Begriff „Workaholic“, denn für sie steht Arbeit an erster Stelle.
Als Generation X oder auch Generation Golf werden jene bezeichnet, die zwischen 1965 und 1979 geboren sind, geprägt durch Wirtschaftskrise und aufkommende hohe Scheidungsraten. Ambitioniert, ehrgeizig, individualistisch und gebildet, arbeiten sie, um sich ein abgesichertes Leben leisten zu können. Für sie ist Arbeit Mittel zum Zweck, Zeit ist wertvoller als Geld, es entsteht die Work-Life-Balance.
Generation Y – auch „Millennials“ genannt – steht für die zwischen 1980 und 1993 Geborenen. Jahrtausendwende, Internetboom und Globalisierung haben sie bewusst erlebt und sie haben zum Großteil ein hohes Bildungsniveau. Diese Gruppe legt sehr viel Wert auf Selbstverwirklichung, sie sind aber auch Teamplayer, die gut vernetzt sind: permanent online, flexibel und multitaskingfähig. Arbeit soll Sinn machen und abwechslungsreich sein, viel Freiraum bieten. Für sie geht es von der Work-Life-Balance zum Work-Life-Blending. – Privates und Arbeit wird nicht mehr streng getrennt.
Generation Z – geboren zwischen 1994 und 2010 – wird auch „Generation YouTube“ genannt, weil sie die Digitalisierung bereits vollständig in ihr Leben integriert hat. Im Gegensatz zur Generation Y wird wieder mehr Trennung von Privatleben und Arbeit gewünscht. Klare Strukturen, Selbstverwirklichung; auch im Privatbereich und in sozialen Kontakten. Es gibt keine Abgrenzung mehr zwischen real und virtuell, sie vernetzen sich mit Gleichgesinnten. Und sie sind Gamer. Sie sind sich der unsicheren Zukunft bewusst, haben aber den Wunsch nach freier Entfaltung.
All diese Generationen mit ihren Werten und Vorstellungen treffen nicht nur in der Arbeitswelt aufeinander. Es stellt sie vor Herausforderungen, aber ermöglicht auch Chancen, wenn Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Miteinander geschaffen werden. Durch Arbeit und Ergebnisse der Jugendforschung und der daraus folgenden Forderung an Politik und Staat entstand die Offene Jugendarbeit: ein freiwilliges und niederschwelliges Angebot für alle sozialen Schichten.
Soziale Arbeit
Offene Jugendarbeit in Österreich (boja.at) ist Teil der Sozialen Arbeit mit einem politischen, pädagogischen und soziokulturellen Auftrag. Sie begleitet und fördert Jugendliche auf dem Weg in die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Bildungsinhalte werden vermittelt, welche für alltägliche Handlungs- und Sozialkompetenzen wichtig sind.
Offene Jugendarbeit leistet besonders für benachteiligte junge Menschen, auch mit Migrationshintergrund einen wesentlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration und Inklusion. Sie bewegt sich zwischen sozialer Arbeit, Bildungs- und Kulturarbeit sowie Gesundheitsförderung und ist ein bedeutsamer Sozialisationsort für junge Menschen. Als Teil zeitgemäßer Jugendpolitik mit Einrichtungen wie Jugendräumen, Jugend-Zentren, -Treffs und -Cafés ist sie unverzichtbar.
Familie als Grundlage
Aus sozialpädagogischer Sicht beginnt die Förderung bereits im Kindesalter, wenn möglich im intakten Familienverband. Eltern und Familienangehörige fungieren als Vorbild, der Verband gibt Halt. Klare Regeln und liebevolle Konsequenz schaffen einen gesicherten Rahmen, in dem Heranwachsende Grenzen ausloten, Stärke entwickeln, Fähigkeiten erkennen und umsetzen können.
Politik, Staat und Jugendarbeit können niemals vollwertigen Ersatz bieten für ein liebevolles Zuhause, für Angenommen- und Geliebtwerden. Es kann nur als Hilfestellung und Ausgleich angesehen werden für fehlende Kompetenzen wie Lösungsorientiertheit, aktive Beziehungsgestaltung, Verantwortungsbewusstsein und zur Entwicklung einer positiven Grundhaltung und seelischen Widerstandsfähigkeit.
quellen | bundeskanzleramt.gv.at, jugendkultur.at, pop-talk.de, boja.at, shell.de, absolventa.de