08.06.2016 0 Kommentare

Leben abseits der Wirklichkeit

Foto: colourbox

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Vor ein paar Jahren öffneten Smartphone & Co den Eintritt in eine digitale Welt voll unbegrenzter Möglichkeiten und Chancen. Heute scheint das Vernetzt-Sein mehr Fluch als Segen zu sein und oftmals abhängig zu machen.

von daniela rittmannsberger

Der Wecker klingelt am Morgen und bei immer mehr Menschen folgt direkt danach der erste Blick aufs Handy. Profile in sozialen Netzwerken werden durchforstet und die E-Mails gelesen – es könnte ja sein, dass man über Nacht etwas Lebensnotwendiges versäumt hat. Und die Gier nach den neuesten Informationen scheint damit noch lange nicht befriedigt: Beim Frühstück liegt das Handy neben dem Teller, auf dem Weg zur Arbeit wird sicherheitshalber noch einmal nachgesehen und nach einem Arbeitstag – meist ebenfalls vor dem Computer und damit jederzeit vernetzt – wird auf der Couch noch gemütlich gesurft. Nicht wenige Menschen erleben Ähnliches Tag für Tag, bewusst ist jedoch kaum jemandem, wie viel Zeit er tatsächlich online verbringt.
In den letzten Jahren revolutionierte die digitale Kommunikation nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch das Privatleben. Es gehört zum guten Ton, vernetzt zu sein und erreichbar für Aktuelles und Informatives, aber immer mehr auch für schlicht Belangloses. Diese aufregende, neue Welt der Medien – hat sie sich längst in eine Falle verwandelt? Leben viele Menschen ein Leben abseits des wirklichen Lebens?

158 Minuten am Tag online

Manche Menschen er­wischte das Zuviel an Medien schon, denn Burnout und ähnliche Erschöpfungskrankheiten haben neben anderen Faktoren oft ihre Ursache in der ständigen Erreichbarkeit. Das Fehlen von entspannenden Momenten abseits vom Netz macht Menschen krank und lässt sie an ihre Grenzen kommen.
Die Bestseller-Autorin Anitra Eggler feiert mit ihrer „digitalen Therapie“ zurzeit große Erfolge; sie selbst lernte im Laufe ihres Lebens die andere Seite der Medaille kennen: Als Managerin von Internetfirmen in der Medien- und Werbebranche lebte die gebürtige Deutsche ebenfalls auf der digitalen Überholspur, bis sie erlebte, wie sich die Medienwelt zusehends in einen Fluch verwandelte. Und sie daraufhin ihr Leben radikal änderte. In ihren Büchern rund um die Themen Soziale Netzwerke und E-Mails weist Eggler schonungslos darauf hin, wie viel Zeit und Energie Menschen heutzutage wirklich in ihr digitales Leben stecken.
Der „Homo digitalis“, wie der moderne Mensch in ihren Büchern genannt wird, surft 158 Minuten am Tag im Internet und mailt 96 Minuten pro Arbeitstag. Im Vergleich dazu küsst ein solch medienaffiner Mensch insgesamt nur eine Stunde im Jahr und hat einen Tag im Jahr Sex. Und besonders scheint eines aufzuwecken: Die meisten Menschen sehen öfter auf das Display ihres Handys als in die Augen eines geliebten Menschen.
Die Expertin öffnet in ihren Büchern und Seminaren schonungslos die Augen – sie verteufelt die neue Medienwelt aber keineswegs: Der bewusste und dosierte Umgang scheint der einzige Ausweg, denn Anitra Eggler propagiert: „Ich will nicht weniger digital sein, sondern besser.“

Kinder wachsen mit Medien auf

Die virtuelle Welt veränderte in den vergangenen Jahren nicht nur die Arbeitswelt und somit die Welt der Erwachsenen, sie fordert auch von den Kindern ihr Tribut. War es früher noch selbstverständlich, in der Natur und unter anderen Kindern eine Kindheit des Entdeckens und der Unbeschwertheit zu erleben, so wachsen heute immer mehr Kinder mit dem Blick in ein digitales Medium auf. Dieser Konsum, der von den Eltern oft nicht einmal richtig wahrgenommen wird, wird oft belächelt: „Wir unterschätzen die negativen Auswirkungen des zunehmenden Konsums von elektronischen Medien. Kulturleistungen wie Lesen, Schreiben und Rechnen schrumpfen dadurch. Nachdenken und Nachfühlen werden durch den erhöhten Konsum nicht erlernt, denn das braucht Zeit – und die soll zunehmend eingespart werden“, sagt die renommierte Psychotherapeutin Rotraud A. Perner. Die bekannte Wienerin beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Medien auf die Entwicklung der kindlichen Psyche – und weist auf oft fatale Folgen hin: „Man lässt sich vom Gerät ‚ansagen‘ und schaut und denkt nicht mehr. Ich nenne das den ‚Navy-Effekt‘. Kinder ahmen außerdem unbewusst die Beziehungsmuster nach, die sie vorgespielt bekommen – denn es ist egal, ob sie lebenden oder virtuellen Menschen zusehen.“

Medienerziehung ist dringend notwendig

Warum ist es für Kinder so schädlich, wenn sie mit den neuen Errungenschaften der Technik aufwachsen? Das kindliche Gehirn sei erst im Alter von 15 Jahren so weit entwickelt, dass die Folgen bewertet werden können, sagt Perner. Das Gehirn wird heutzutage einseitig auf Geschwindigkeit trainiert, Fühlkompetenzen wie das Mitgefühl gehen verloren. Der einzige Ausweg – für Eltern wie für Kinder – ist die Medienerziehung. „Eltern sollten überdenken: „Was alles soll mein Kind in welchem Alter kennenlernen und einüben? Die ersten sechs Lebensjahre sind entscheidend – danach wird nur mehr wiederholt. Kinder sollen die Welt draußen beobachten und entschlüsseln und nicht nur die inszenierte Welt am Bildschirm. Eltern haben dabei eine Vorbildfunktion“, sagt Perner.
Facebook, WhatsApp und Co haben die Welt nach wie vor fest im Griff – aber so manche digitale Fassade scheint schon zu bröckeln und die Sehnsucht nach einer Welt, wie sie vor all den Möglichkeiten war, wird spürbar. Anitra Eggler formuliert es kurz und sehr treffend: „Es ist sechs nach zwölf und es geht um alles: Ihr Leben, Ihr Arbeiten, Ihr Menschsein. Es geht um Ihr Lieben, um Ihre Kussbilanz und um Ihre Kinder.“ In diesem Sinne sollte das Handy wohl einfach öfter zur Seite gelegt werden und der Augenkontakt intensiviert und die Kussbilanz erhöht werden. Denn die wesentlichen Dinge kommen schon
längst viel zu kurz.

info | Anitra Eggler, Digitaltherapeutin
www.anitra-eggler.com

Rotraud A. Perner, Psychotherapeutin und Buchautorin
www.perner.info

Rubrik:: Aktuelle Themen

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