02.03.2022

Radikal, bald wieder das neue Normal?

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[von martin matheo]

Austro-Faschismus. Es wiederholen sich aktuell Tendenzen, die wir alle aus dem Geschichtsunterricht kennen.

 

Wer mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht und unsere Zeit betrachtet, wird rasch eines feststellen: Wo man auch hinsieht, Debatten werden vielerorts intensiver und emotional aufgeladener. Es scheint die Parole zu gelten: Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns.
Der Weg des Konsens und die Mitte, in der man sich trifft, um wieder weitergehen zu können, scheinen Auslaufmodelle zu sein. Doch wie sagt der gute alte Volksmund so treffend: „Die Wahrheit liegt oft in der Mitte“. Ein sehr vernünftiger und durch und durch demokratischer wie auch pragmatischer Ansatz, wie ich meine. Einer, der jedoch nicht immer im Interesse der Mächtigen liegt. Oft auch nicht im Interesse des heute beinahe allmächtig erscheinenden Trios von Macht, Wirtschaft und Politik. Ein Trio, dessen Zusammenspiel geschichtlich betrachtet nicht immer ein rühmliches und den Menschen dienliches war.
Manchmal kann man sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass es sich dabei mehr oder weniger um ein sich selbst erhaltendes System handelt. Eines, das deshalb zuerst sich selbst und nicht Bürger oder Kunden in den Mittelpunkt des Handelns stellt. Anders sind gewisse Entwicklungen in wirtschaftlich-politischer Hinsicht nur schwer zu erklären. Sobald man aber den einzelnen Menschen, sein Wohlergehen und seine berechtigten Bedürfnisse aus den Augen verliert, wird es heikel, um nicht zu sagen gefährlich, und eben auch schnell radikal.

Historische Entwicklungen
Wir sollten immer wissen, was schon einmal war, um eine Ahnung davon zu bekommen, was vielleicht kommen könnte. Schauen wir also zurück. Rund 90 Jahre. Auf ein nicht unumstrittenes Kapitel unserer Vergangenheit, die Zwischenkriegszeit. Eine Zeit, die man wohl nicht gerade als die beste unseres Landes bezeichnen kann. Eine Zeit, bei der man bei genauerer Betrachtung durchaus verhaltensrelevante Parallelen zu unserer heutigen Zeit entdecken kann.
Man sagt ja, die Geschichte wiederhole sich, nur eben anders. Leider stellt das der Gattung Mensch kein gutes Zeugnis aus. Die Zeiten waren damals sicher keine einfachen. Die wirtschaftliche Depression breitete sich unaufhaltsam aus und Millionen Menschen verloren ihre Arbeit, Hab und Gut. Sie gelangten an den Rand ihrer Existenz oder darüber hinaus in die direkte Zerstörung ihrer Lebensgrundlage. Wirtschaftlich außergewöhnliche Zeiten, in denen sich eine Gleichschaltung von Medien durch eine geschickte und gezielte „Zuckerbrot und Peitsche-Strategie“ leicht bewerkstelligen ließ. Denn auch Zeitungen litten unter den wirtschaftlichen Verwerfungen, und wenn ein Medium nicht „auf Linie“ war, konnte es rasch zum Opfer eines Verbreitungsverbots werden. Das zunehmende Aufkommen von radikalem und nationalistischem Gedankengut, bei dem man natürlich auch gleich die vermeintlich Schuldigen an den allgemeinen Missständen mitlieferte, machte den sogenannten bürgerlichen Mittelkräften das politische Leben zunehmend schwerer.
Die Verlockung muss groß gewesen sein, einem drohenden Machtverlust mit der Eindämmung von rechtsstaatlicher, demokratischer Ordnung samt Beschränkung von Grund- und Freiheitsrechten zu begegnen. Wie man heute weiß, war der Lockruf des Machterhalts zu groß. Die Entwicklung wurde durch eine massive Kompetenzausweitung der Exekutive begleitet.
Eine weitere charakteristische Tendenz jener Zeit war es, mit Hilfe von Notverordnungen zu agieren. Denn sie waren ein effektives und gerne angewendetes Mittel, um über Versäumnisse des Parlaments hinwegzuhandeln.

Die Stimme der Kunst
Viele fragten sich damals auch, warum die Kunst beinahe im ganzen Land schwieg und ihrem eigentlichen Auftrag, nämlich der kritischen Hinterfragung von Zeit und Geist, nur in äußerst geringem Umfang nachkam. In der Tat gab es wenig bis keinen relevanten Gegenwind von Künstlern. Sie dienten einfach, verhielten sich linientreu, um nicht gänzlich ihrer ohnehin meist bescheidenen Existenz beraubt zu werden. Jedoch gab es auch erinnerungswürdige Ausnahmen, wie etwa der „Liebe Augustin“ oder die Wiener Initiative „Literatur am Naschmarkt“.
Nach und nach wurden die Menschen und damit auch die Zeit radikaler, auch deshalb, weil die politischen Akteure jener Zeit nicht gerade Meister des Konsens waren. Vielmehr setzten sie strategisch und gezielt auf das Prinzip der Massenpsychologie. Gleichschaltung im Denken und Zensur von Meinungen waren wirkungsvolle Gebote, von denen man dachte, es würden Lösungen sein. Zugangsbeschränkungen an Hochschulen samt ideologischer Auslese waren bald an der Tagesordnung.
Jegliche Kritik wurde im Keim unterdrückt, Bundesbeamten sogar die Kritik am Staat und seinen Organen auch als deren Privatmeinung untersagt. Allmählich wurde einer perfiden Diskriminierung Tür und Tor geöffnet. Dies mussten ganz besonders leidvoll viele jüdische Mitbürger erfahren. So wurde etwa ab 1934 Ärztinnen und Ärzten die Fortbildung in öffentlichen Krankenhäusern verwehrt und eine Gewerbenovelle verbot Kundenbesuche, was nicht zuletzt zur Vernichtung der Existenz vieler jüdischer Händler führte. Eine rabenschwarze Entwicklung, in der allmählich und Stück für Stück auch immer mehr legitime und demokratische Freiheitsrechte eingeschränkt oder beiseite geschafft wurden.
Erich Kästner formulierte einmal: „Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf auch nicht warten, bis aus einem Schneeball eine Lawine geworden ist. Dann ist es zu spät. Eine Lawine hält niemand mehr auf.“

Gespaltene Gesellschaft
Dieses dunkle Kapitel unseres Landes war von einer unaufhaltsamen Radikalisierung der Bevölkerung gekennzeichnet. Spaltung und Radikalisierung sind Entwicklungen, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Massenmanipulation stehen. Diese wurde vom Arzt, Ethnologen und Psychologen Gustave Le Bon (1841–1931) beschrieben, der als der Begründer der Psychologie der Massen gilt. Sinngemäß meinte er, Ideen müssten den Massen so vermittelt werden, dass sie einfach aufzunehmen sind. Dies müsse bildlich geschehen, denn die Massen denken vornehmlich in Bildern und lassen sich deshalb durch Bilder besonders gut beeinflussen. Herzlich willkommen in der schönen neuen Bilderwelt von YouTube, Facebook, Instagram und Co!
Darüber hinaus, erläuterte Le Bon, brauche es auch immer etwas Großes. Eine große Bedrohung, ein großes Ziel, aber auch eine große Hoffnung. Und es braucht Helden, die den Weg zum Heil weisen oder zumindest vorgeben, diesen zu kennen. Jede Bewegung und jede Zeit braucht ihre Helden, so scheint es. Doch nicht selten sind die Helden von heute die Geschmähten von morgen und so schnell Helden geboren und hochstilisiert werden, so schnell können sie auch wieder in der Bedeutungslosigkeit versinken. Dennoch sind Helden sehr bedeutsam, denn nicht durch Beweise, sondern durch Vorbilder lenkt man die Massen, so eine weitere Grundthese des Massenpsychologen.
Übersetzt in unsere heutige Zeit könnte man mutmaßen, es brauche eben Massenmanipulation, um einen zunehmend aufkommenden Überwachungskapitalismus salonfähig zu machen, um ihn geschmeidig in den Köpfen von Bürgern zu verankern, die sich nichts sehnlicher wünschen, als ihren Wohlstand zu erhalten. Ein trügerischer Wunsch, der in der Lage ist, den Blick in die Zukunft zu verklären und den Sinn fürs Wesentliche zu betäuben.

Chancen für die Zukunft
Doch wo immer Radikalismus und Polarisierung auf dem Vormarsch sind, da gibt es auch die Chance für ein verständnisvolles Gespräch. Die Chance, an den Meinungen und Erfahrungen anderer und andersdenkender Menschen zu wachsen und durch sie zu lernen. Die Chance auf echte und gelebte Vielfalt fernab von oberflächlichem Multikulti. Die Chance auf die Erkenntnis, dass es „die Wahrheit“ nicht gibt, sondern dass sie vielmehr die Summe aller Schritte ist, die wir aufeinander zugehen.

 

©martinmatheo

ZUR PERSON
Martin Matheo lebt und arbeitet in Neumarkt/Ybbs. Er ist Kommunikationsberater und Autor mit Schwerpunkt auf zeitgenössischer Literatur.
web | www.martinmatheo.com

Rubrik:: Aktuelle Themen

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