Reaktion auf Schreien
Als ich gerade ihr Kommentar im aktuellen MOMAG gelesen habe, spürte ich spontan das Bedürfnis Ihnen zu schreiben.
Ich lese so viel Wut, Verständnislosigkeit, Trauer und Unsicherheit heraus; fühle mit Ihnen und Ihrem gebrochenen Herz. Auch ich habe Kinder, eine Erstklässlerin und ein Kindergartenkind. In meinem beruflichen Umfeld sind Kinder, ich arbeite an der Kinder- und Jugendpsychosomatik. Und auf allen Seiten begegnet mir das Thema Covid. Ich teste unsere PatientInnen, trage zwölf Stunden lang Maske, bin konfrontiert mit den Problemen der Kinder und Jugendlichen.
Aufgrund meiner Ansichten über das Thema Covid lebe ich ganz sicherlich in einer Blase. Vielleicht ergeht es Ihnen ebenso? Schließlich beschäftigt man sich meist mit ähnlichen Medien und Menschen und wird darin in der eigenen Meinung meist bestätigt. Aus diesem Grund, lese ich auch hin und wieder das MOMAG. Um meine „Bubble“ zu erweitern. Denn vieles sehe ich grundsätzlich anders, als die Blattlinie neuerdings vertritt.
Mir ist vollkommen bewusst, dass man von seiner eigenen Linie nicht abweichen möchte, kann. Aber mich bereichern andere Meinungen und vielleicht können Sie auch Nutzen aus meiner ziehen.
Meine Tochter lässt sich zwei Mal in der Woche testen. Den dicken Watteträger führt sie sich selbst in die Nase ein und mit lachen stellt sie fest, dass sie mit ihrem Finger beim Nasenbohren tiefer kommt. Das gemeinsame testen erlebt sie als lustig, sagt sie. Ihren Mundschutz trägt sie. Nicht blindlings folgend, sondern reflektiert. Sie bekommt ausreichend Luft mit meiner selbst genähten Maske und da ich Masken, richtig getragen, befürworte, ist sie halt auch dafür. Wir Bindungspersonen sind maßgeblich für die Gefühle unserer Kinder mitverantwortlich und dienen als Vorbild. Reagiere ich mit Angst oder Ablehnung auf etwas, spürt das mein Kind. Ich bin ja Orientierungsperson, wir sind Herdentieren sehr ähnlich. Angst ist ein essentielles Gefühl, schützt uns und ohne Angst würden wir wohl nicht lange leben. Meine Kinder wissen, dass auch ich manchmal Angst habe. Ich erkenne Angst an und biete meine Unterstützung.
Angst begegnet mir in der Arbeit mit den PatientInnen. Angststörungen sind präsent. Und in den letzten Monaten hörte ich auch hin und wieder (zum Glück selten) Angst bezogen auf Covid. Letzte Woche erzählte mir eine elfjährige Patientin, dass sie nicht mehr schlafen kann. Sie berichtet von einem Video mit tanzenden Menschen mit Masken in weißen Overalls, die so gruselig ausschauen. Erzählt, dass sie Angst vor Impfungen hat und immer mehr Inhalte sprudeln aus ihr heraus. Sie hat zu Hause ein Video von einer Demonstration gesehen und kann die Bilder nicht zuordnen. Die Erzählungen der Erwachsenen über Test- und Impfpflicht, der vermeintlichen Überwachung, sind für sie nicht verarbeitbar. Angst ist ansteckend.
Im Dezember war unsere Familie zwei Wochen lang in Quarantäne. Mein Mann hat sich in der Arbeit auf der Covid-Station infiziert. Wir trennten unseren Wohnbereich ab, errichteten eine Schleuse und picknickten mit großem Abstand zusammen. Krise ist das, was man draus macht. Meinem Mann ging es eine Woche lang sehr schlecht. Auch heute hat er mit den Nachwirkungen von Covid zu kämpfen. Mein frisches selbst gebackenes Brot schmeckt für ihn nun fade. Er schmeckt nur sehr stark gewürztes Essen und sein Geruchssinn fehlt zu einem Großteil. Wir wissen nicht, wann und ob es wieder so wird wie früher. Longcovid-Betroffene habe ich einige in meinem Umfeld. Die Triage im Krankenhaus im Herbst war sehr schlimm. Zu wissen, dass meine Großeltern im Krankheitsfall zu alt für die Intensivstation wären, hat mich sehr beschäftigt. Die Tatsache, dass in dieser Zeit auf der Intensivstation meist nur PatientInnen betreut wurden, die keine oder wenige Vorerkrankungen hatten und unter 65 Jahre alt waren, war schwer aushaltbar. Die vielen Toten auf den Bettenstationen. Der Mangel an Pflegepersonal. Warm-Satt-Sauber-Pflege. Die irreversiblen Schäden an den Lungen der noch so jungen PatientInnen. Gerinnungsstörungen, Herzinfarkte und andere Komplikationen bei PatientInnen die eigentlich schon als „über dem Berg“ galten. Am Abend dann in den Nachrichten die Meldung, dass es Triage ja (noch) gar nicht gibt. Das große Aufatmen, als die Betten nach dem Lockdown wieder leerer wurden. Und dann lese ich, dass die Maßnahmen ja nix bringen, weil ja eh genug Betten im Krankenhaus frei sind. Präventionsparadox im Hinterkopf. Die größte Herausforderung in ihrem bisherigen Berufsleben, sagte mir eine Bekannte, Intensivkrankenpflegerin. Traumatisierte KollegInnen, keine Seltenheit.
Mein Mann arbeitete die Tage in der Teststraße mit (freiwillige Antigentests). Eigentlich nicht sein Arbeitsplatz. Auch viele Kinder und Jugendliche waren bei ihm. Den „tiefen“ Abstrich gibt’s ab zwölf Jahren. Viel Quatsch und Späße gemacht, Aufklärung, die Möglichkeit „Nein“ zu sagen, war das Motto meines Mannes. Dann: ganz anders als erwartet, schlussfolgerten die Kinder oft. Haben sich alles viel schlimmer vorgestellt. Vor zwei Wochen ließ ich mir die zweite Impfung verabreichen. Tief dankbar darüber. Leicht kränklich am Abend. Die Impfung wirkt. Impfpflicht gibt es bei uns Krankenhauspersonal übrigens nicht.
Mein Sohn, fünf Jahre alt, sagt manchmal, dass er froh ist, wenn „Corona vorbei ist“. Angst spüre ich nicht bei ihm. Er weiß, dass er sich und andere schützen kann. Ich bin über das große Solidaritätsgefühl unserer Kinder immer wieder erstaunt. Einschränkungen gibt es derzeit. Fußball spielen geht gerade nur zu Hause. Seine engsten Bezugspersonen sieht er nach wie vor. Kontakt zu Gleichaltrigen hat er genügend, er geht in den Kindergarten. Gerade lernt auch er, „nein“ zu sagen. Er hat manchmal Ärger mit seinem Freund.
Das von Ihnen kritisierte System schränkt uns in der Tat ein. Und auch ich finde, dass in der derzeitigen Politik, Kritik mehr als gerechtfertigt ist. Aber wenn Sie, aus einer Weltanschauung heraus und mit Ihren Informationen, ihr Kind nicht an der Gesellschaft (in diesem Fall Schule) teilnehmen lassen, schränken Sie, als Mutter, ihr Kind ein. Wenn Sie das wirklich wollen, ist das ihr gutes Recht. Aber auch eine Pandemie lässt uns Wege offen. Dass ist das wunderbare an einer Demokratie, die wir in Österreich haben.
Ich möchte ihnen danken, dass Sie meinen Brief bis ans Ende gelesen haben. Und jetzt gehen wir auch in den Wald, Weiterarbeiten am Lager steht an.
Alles Liebe und Gesundheit,
Daniela